Story: Begegnung im Frühling

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von ajnsv am 27.5.2020, 12:16:56 in Softcore

Begegnung im Frühling

Geht es nicht jedem so? Schönes Wetter nach der langen Zeit der Dunkelheit, die Natur atmet auf, es duftet, wohin man auch die Nase reckt. Man holt tief Luft, streckt und reckt sich, holt tief Luft …

… und dann wie ein Schock: Da steht ein Junge in der Sonne – dunkles Haar, schlank, wunderschönes zartes Gesicht, feines, sehnsuchtsvolles Lächeln – auch er genießt den Lenz, hebt die Arme, dehnt seine Brust der Sonne entgegen, atmet geräuschvoll, genussvoll aus, schaut umher und – erwischt mich beim Starren. Schnell schaue ich woandershin, nicht ganz woanders, das wäre zu auffällig, sondern etwas woanders. So, als wäre das nur Zufall gewesen, als hätte ich genau jetzt sowieso vorgehabt, woandershin zu gucken.

Ein verstohlener Blick nach angemessen erscheinender Pause – er hat es nicht geglaubt. Er sieht mich voll an, lacht mir ins Gesicht, zwingt mich, Stellung zu beziehen, Verantwortung für mein Handeln zu übernehmen, mindestens eine Erklärung zu liefern, obwohl er genau weiß, was in mir vorgeht. Er ist sich seiner Wirkung auf mich sehr bewusst. Nicht, dass er damit kokettierte, er ist selbstbewusst genug. Er weiß das einfach.

Und dann kommt er auf mich zu, lächelt, kommt ohne zu zögern näher, breitet gar seine Arme aus – ich stehe wie eingefroren, kann es nicht fassen. Ich rieche sein Deo, rieche ihn.

Bevor ich ebenfalls meine Arme öffne, ihn willkommen zu heißen, ganz kurz, bevor er mich endlich erreicht, macht er eine kurze Korrektur, ändert seine Richtung, umkurvt mich elegant, haarscharf, geht an mir vorbei, streift mich beinahe mit seinem Arm und – hat gar nicht mich gemeint, sondern eine elegante Dame hinter mir, die sich unbemerkt hinter mich gestellt hat, ihn statt meiner in die Arme schließt.

Man sieht es mir nicht an, zwar bin ich Innerlich erleichtert, dass ich mich nicht völlig zum Affen gemacht habe. Gleichzeitig jedoch spüre ich Bedauern, ja Enttäuschung, einen kleinen Stich mitten ins Herz, als die beiden dicht hinter mir vorbeiflanieren.

Ich sehe ihnen nach, seufze einmal tief, mache mich auf den Weg ins Büro …

Am Abend dieses herrlichen Tages, der eigentlich jeden Verliebten in Hochgefühl versetzen müsste, als ich nach Hause komme, mir‘s bequem mache, knistert es in meiner Hosentasche – ein Zettel in meiner Gesäßtasche! Was zum …

Ich hatte es nicht bemerkt, eine Visitenkarte, nein, die Kopie einer Visitenkarte. Ich überfliege sie, ein Name, eine Adresse, Telefonnummer, Handynummer, eMail-Adresse – alles, was man erwartet. Sonst nichts.

Langsam gehe ich zum Tisch, lege die „Karte“ in meinen Ascher, zünde sie an, schaue zu, wie sie verkohlt, seufze wieder tief und denke: ‚Schade, zu geschäftsmäßig!‘

Nachts liege ich noch lange wach, denke über die Begegnung nach, trauere hinter ihr her, hake sie dann ab. Es wird wieder eine Chance geben.

Ganz sicher! Auch mit 80 wird es eine Chance geben.

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Kommentare

  • deonrw
    deonrw am 28.05.2020, 00:29:43
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